Business Case, Genussmittel oder nachhaltige Ernährung – Bericht über eine spannende Begegnung
Ein Beitrag von Sibyl Steuwer
Ich treffe Sophie Lokatis und Andrew Müller in einem Café – allerdings ohne Insektenküche. Die beiden sind über ihr Studium und ihr Engagement an der Universität zum Thema gekommen: Sophie hat sich der Aktion von Jens Rolf, einem Professor an der Freien Universität Berlin, angeschlossen und auf der Langen Nacht der Wissenschaft 2014 eine Insekten-Kochveranstaltung begleitet. Die Veranstaltung wurde in der Berliner Zeitung und im TIP angekündigt und hat einen Publikumsrekord bei der Langen Nacht der Wissenschaft erzielt. Daraufhin hat sich eine Gruppe von Studierenden gegründet, die immer mal wieder kochen und Workshops dazu anbieten. Andrew ist zusammen mit Sophie der beständige Kern der Gruppe.
Andrew hatte sich schon im Rahmen seines Studiums an der Jabobs University in Bremen für Insekten interessiert. Dort besuchte er ein Seminar zu Entomophagie bei Prof. Meyer-Rochow, der bereits in den 70er Jahren zum Thema publizierte. Hinzu kam sein Interesse an Südostasien. Laos ist das Land mit der wohl ausgeprägtesten Insektenesskultur weltweit. Dort hat Andrew Feldforschung für seine Bachelorarbeit durchgeführt. Die Ergebnisse bekräftigen, dass es keine Universalität der Esskultur gibt, sondern sehr spezifisch ausgeprägte Kulturen. Das Essen von Insekten ist nicht aus der Not heraus geboren, sondern vor allem ein fester Bestandteil der laotischen Esskultur. Dass in Thailand auch junge Leute auf Nachtmärkten Heuschrecken als relativ teure Snacks verspeisen zeigt, wie „modern“ das sein kann.
Sophie und Andrew ist es sehr wichtig, die Vor- und Nachteile von Insekten als Nahrungsmittel differenziert darzustellen. Um Missverständnisse zu vermeiden, stellen die beiden gleich zu Beginn klar: „Die industrielle Fleischproduktion und der hohe Konsum haben fatale Folgen. Aber es gibt sicher sinnvollere Möglichkeiten dieses Problem zu lösen, als allgemein auf Insekten umzusatteln.“
Sie erläutern, dass es viele Akteure gibt, die ein Interesse an dem Thema haben – mit sehr unterschiedlichen Motiven.
Wissenschaft und Forschung für nachhaltige Ernährung – oder doch die Suche nach dem großen Business?
Der vielleicht wichtigste Meilenstein für Insekten als Nahrungsmittel war der FAO-Report 2013. Die FAO hatte schon einige Jahre zuvor eher erfolglos versucht, Insekten auf die Agenda zu bringen – inzwischen stürzen sich viele auf das Thema.
2014 fand in Wageningen die erste Weltkonferenz zu Insekten als Nahrungsmittel statt. Sie wurde insbesondere zum Networking genutzt. Andrew selbst hatte ein als provokativ wahrgenommenes Poster mit dem Titel „Entomophagy and Capitalism“ dort vorgestellt. Kritisch hinterfragen Andrew und Sophie die Rolle von Business-Interessen, die sich auf solchen Veranstaltungen tummeln. Sie haben beobachtet, wie im Rahmen von Pitches der Businessfokus und die Suche nach neuen Geschäftsmodellen im Vergleich zu den ursprünglich wissenschaftlichen Diskussionen in den Vordergrund rückten.
Die Universität in Wageningen versteht sich als Pionier im Bereich der Insektenernährung. Forschung, die hier entstand, war beispielsweise Grundlage für verschiedene Dokumentationen auf Arte. Auch ein Kochbuch mit Kofi Annan als Vorwortverfasser wurde hier initiiert.
Seit 2015 wird einmal jährlich die Insecta in Magdeburg veranstaltet. Eine Konferenz über den aktuellen Forschungsstand zu Insekten als Nahrungsmittel sowie den Chancen und Hemmnissen. Allerdings sind die Eintrittspreise der von einem Privatunternehmen organisierten Veranstaltung so hoch, dass sich junge Forscher wie Sophie und Andrew die Teilnahme kaum leisten können.
Andrew sieht auch die Rolle der FAO mitunter kritisch. Ein milliardenschweres Projekt der FAO zu Empowerment mit Insektenzucht als zusätzliche Einnahmequelle sei mehr oder weniger im Sande verlaufen. Empowerment käme nicht automatisch mit der Einführung dieser zusätzlichen Einnahmequelle, sondern müsse mit Bedacht gefördert werden. Das Auftun einer neuen Geschäftsquelle dürfe nicht die zusätzliche Landnahme und voranschreitende Enteignung rechtfertigen, frei nach dem Motto „Du brauchst doch das Land gar nicht mehr, Du kannst doch immer noch Insekten züchten“. Die beiden Expert*innen erläutern immer wieder, dass häufig eine sehr technische Perspektive vertreten werde, welche soziale und gesellschaftliche Komponenten zu sehr ausblendet. So sieht Andrew in der voranschreitenden Kommerzialisierung ein Hauptproblem der Insektenernährung in Südostasien: Er hat analysiert, wie dieser Trend inzwischen zu einer Verstärkung der sozialen Ungleichheit in einigen Regionen Südostasiens führt: die Nachfrage nach beliebten Insekten wie z.B. Heuschrecken führe zu enormen Preissteigerungen. Hinzu kommt, dass – im Gegensatz zu den in Deutschland diskutierten Ansätzen – die Insekten in großen Teilen der Welt wild gefangen werden. Der Wildfang aus Kambodscha deckt beispielsweise einen großen Teil der Nachfrage nach Insekten in Thailand und wird unter sozial fragwürdigen Bedingungen durch Frauen und Kinder weiterbearbeitet.
Genuss und nachhaltige Ernährung
Es gibt auch Pioniere in der europäischen Szene, die eher auf Genuss als auf Gewinn setzen: Das Nordic Food Lab aus Kopenhagen stellt beispielsweise das Konzept „deliciousness“ in den Vordergrund. Dort wurde die vermutlich erste Mayonnaise mit Bienendrohnenlarven anstelle von Ei zubereitet.
Auch Andrew bezeichnet sich als Genussmensch – und isst alles, was gut schmeckt. Sophie ernährt sich vegetarisch und bemüht sich, auf tierische Produkte weitestgehend zu verzichten. Aus ihrer Sicht gibt es in Deutschland keinen Proteinmangel – weltweit gesehen vielleicht schon. Bienendrohnenlarven isst sie aber, denn Bienendrohnenlarven sind ein „Abfallprodukt“ aus der Imkerei, die nicht weiterverfüttert werden, weil das verboten ist – als Nahrung für den Menschen sind sie aber nicht nur unbedenklich, sondern auch vielversprechend und lecker. Die Larven bestehen zu 60% aus Protein und zu 40% aus Fett – ein toller Ei-Ersatz also. Allerdings ist die Verarbeitung der Insekten recht aufwendig. In flüssigem Stickstoff tiefgekühlt müssen die Bienendrohnenlarven oder die etwas leichter zu verarbeitenden Puppen aufgebrochen werden. Sophie hat zusammen mit ihrer Schwiegermutter ein (vom Insektenanteil abgesehen) veganes Bienenstichrezept mit Bienendrohnenlarven entwickelt. Im Anthropozän-Comic ist allerdings das klassisch „deutsche“ Bienenstichrezept mit Bienendrohnenlarven aufgegriffen worden, nicht die vegane Alternative, die man am Ende des Beitrags nachlesen kann.
In Deutschland werden vor allem Mehlwürmer und Heuschrecken zubereitet. Es gibt mittlerweile auch Mini-Urban-Farming-Geräte, mit denen man sich eine eigene Mehlwurmzucht anlegen kann. Sophie weist darauf hin, dass man Mehlwürmer sachgerecht behandeln muss. Wichtig ist, die Mehlwürmer gut zu sieben, um die giftigen Exkremente auszusortieren.
Andrew findet gezüchtete und gefriergetrocknete Mehlwürmer und Heuschrecken etwas langweilig. „Gut zubereitete Seidenspinnerpuppen sind sehr lecker. Und die einheimischen Junikäfer sind eine kleine Delikatesse“, schwärmt er. Daraufhin entgegnet Sophie – halb ernst, halb im Scherz -, dass es ja vielleicht eine gute Idee sei, sich auf diese Art schädlicher und invasiver Arten zu entledigen.
Take away
Grundsätzlich ist Andrews Botschaft: Insekten kann man sehr gut essen. Man benötigt wenig Platz, viele sind leicht zu züchten und erlauben im besten Fall auch das Empowerment von zuvor benachteiligten Gesellschaftsgruppen – auch wenn es im Endeffekt von anderen Faktoren abhängt, ob das tatsächlich gelingt. So ist auch die Rechtslage in der EU schwierig und es bestehen weiterhin große Unsicherheiten hinsichtlich der ökologischen Auswirkungen von Insekten als Nahrungsmittel. Die beiden vermuten, dass es deswegen vielleicht nur sehr wenige Positionierungen von Verbänden und NGOs zum Thema gibt.
Sophie ergänzt die Befürchtung, dass es statt eines Fleischersatzes eher zu einer Snack-Ergänzung oder einem Delikatessen-Kult komme und der Fleischkonsum gleichbleibend hoch bleibt. Das ist aus ihrer Sicht die falsche Richtung.
Unterm Strich sind beide immer noch so fasziniert von den Möglichkeiten der Insektennahrung, dass sie an der Idee eines Kochbuchs stricken. Sie experimentieren immer wieder mit Bienendrohnenlarven – manches gelingt, anderes muss noch in die zweite Testrunde.
Mit vielen neuen Informationen verabschiede ich mich von den beiden und hoffe sehr, dass sie ihre Kochbuchidee weiter vorantreiben. Einen echten Bienenstich möchte ich wirklich gerne einmal probieren.
Und hier ist das Rezept (mit herzlichem Dank an Sophie!)
Man nehme für den Teig
250g pflanzl. Sahne, 200g Zucker, 50g Honig, 3 EL Apfelmuß, 300g Mehl, 1 Päckchen Backpulver.
Mit einem Mixer cremig rühren.
Für den Belag: 125 g Margarine, 200g Zucker, 50g Honig, 3 Eßl. pflanzl. Milch, 100g Mandelplättchen, (Drohnen)
Nun das Mehl mit dem Backpulver mischen und unter die Sahne-Zucker-Honig-Masse geben und auf höchster Stufe mindestens 3 Minuten zu einem lockeren Teig verrühren. Auf ein gefettetes Backblech geben und gleichmäßig verstreichen. Etwa 15 Minuten bei 180 Grad auf mittlerer Schiene backen. Der Teig muss schon etwas fest sein.
Während der Teig im Ofen backt, die zerlassene Margarine mit Zucker, Honig, pflanzl. Milch und Mandelplättchen mischen, dann vorsichtig auf den heißen Teig verteilen und die vorgerösteten Drohnen vorsichtig darauf streuen. Wieder in den heißen Ofen stellen und nochmals etwa 10 Minuten backen.
Und fertig ist der Bienenstich!
Coming closer…
Ein Beitrag von Sibyl Steuwer
Zugegeben: so richtig behaglich fand ich die Idee Insekten zu essen lange nicht. Seit einiger Zeit gucke ich mir Dokumentationen über Insektenverkostungen an und kaufe mir Zeitschriften, die Insektengerichte bebildern, um mich an die Vorstellung zu gewöhnen, vielleicht mal in eine knusprig gebratene Heuschrecke zu beißen. Näher bin ich lange nicht gekommen. Bis ich neulich in Ottawa auf dieses Plakat des kanadischen Naturkundemuseums gestoßen: Come closer. Approchez-vouz.
Neben einer Ausstellung mit gigantischen, vielfach vergrößerten Insektenplastiken [i] führt mich ein Libellenwegweiser zum Science-Labor, das sich in ein Insekten-Backstudio verwandelt hatte. Als ich unten ankomme ist gerade Kochpause – ein guter Moment, um die beiden Bäckerinnen zu interviewen: Ist die Insektenverkostung eine Mutprobe für die Besucher? „Nein, gar nicht. Wir backen hier mit Grillenmehl weil wir finden, dass wir zu viel Energie, Fläche und Wasser für die Proteinproduktion brauchen.“ Die beiden zeigen mir eine Wasser- und Ressourcenbilanz für die Produktion von 10 Gramm Protein aus Fleisch- im Vergleich zur Insektenproduktion. Auch die Qualität der Proteine spricht für sich, mehr Calcium, mehr Eisen, mehr Aminosäuren verspricht die Graphik.
Die beiden Frauen wollen ihre Besucher nicht dazu bringen, völlig auf fleischliches Protein zu verzichten, aber sie finden, dass Mehlwürmer ein toller Snack für den Fernsehabend auf der Couch sind – und das Grillenmehl in den Ingwerkeksen schmeckt man doch gar nicht, oder? Ich koste – tatsächlich schmeckt der Keks lecker nach Ingwer und Sirup, es raschelt nach Keks, nicht nach Grillen. Das kann ich gut essen. Ich stecke mir das Rezept direkt ein. „Willst Du mal am Mehl riechen?“ Klar will ich das. Ein bisschen muffig und erdig riecht es, wie bei der Pilzsuche im herbstlichen Wald. „Das Grillenmehl schmeckt und riecht nicht immer so. Je nachdem, was die Grillen zuletzt gefressen haben variiert auch die Geschmacksnote des Mehls“, erklärt mir die jüngere Frau. Einer der Züchter, mit denen das Museum im Kontakt ist, gibt seinen Grillen in den letzten Tagen vor der Ernte vor allem Salat zu fressen, um ein möglich neutrales Mehl zu erhalten.
Ich gehe einen Schritt weiter und schaue mir die Mehlwürmer und Grillen in ihren Terrarien an. Den Besuchern soll der Einstieg ganz leicht gemacht werden – Der Serviervorschlag für die Mehlwürmer: als Streusel auf ein in Honig getunktes Apfelstück. Ich merke, dass ich das gar nicht mehr brauche, greife zu und stecke mir einige getrocknete und gesalzene Mehlwürmer in den Mund. Sie schmecken ein bisschen wie Salzstangen. Ekel empfinde ich nun gar nicht mehr, ich greife ein zweites Mal zu.
„Wie reagieren denn die Kinder, wenn ihnen die Snacks angeboten werden?“ „Sehr unterschiedlich“ erfahre ich. Die Kinder scheinen die Ängste und Ekel ihrer Eltern zu übernehmen: Neugierige Eltern werden meist von neugierigen Kindern begleitet. Eltern, die die Insektenverkostung als Abenteuer begreifen machen für die Kinder eine Mutprobe daraus. Und Eltern, die sich selbst nicht richtig trauen oder nur sehr zögerlich mit verzogenem Gesicht die Insekten probieren scheinen auch ihren Ekel auf ihre Kinder zu übertragen. Ich kann mich selbst genau davon überzeugen als die nächste Gruppe von Kindern mit ihren Eltern zur Backstunde kommt.
Oben in der Ausstellung ziehe ich mir noch eine Packung Grillensnacks aus dem Automaten, die ich meinem 9-jährigen Neffen mitbringe und leider nicht persönlich überbringen kann. „Muss ich die jetzt essen“ fragt er vorsichtig am Telefon als wir das nächste Mal miteinander sprechen. „Du musst die natürlich nicht essen. Aber wir können das gerne zusammen ausprobieren, wenn wir uns das nächste Mal sehen“. Ein erleichtertes, zustimmendes Seufzen am anderen Hörer.
Ich bin unentschlossen, ob mir dieser Zugang richtig erscheint – Insektenprotein als Nahrungsmittelzusatz, reduziert zu einem Pulver? Insekten als Kaugummi-Ersatz aus dem Automaten? Ich möchte rausfinden, welche anderen Ansätze es gibt, sich den Insekten als Nahrungsmittel zu nähern und habe mich mit zwei Berliner Experten verabredet, um mehr darüber zu erfahren und demnächst wieder zu berichten.
[i] http://nature.ca/en/about-us/museum-news/news/press-releases/giant-bug-invasion-bugs-outside-box-opens
12. Juni 2016
Insekten: Nahrungsmittel, ästhetische Objekte, unersetzbares Glied im Ökosystem – und Symbol für eine immer noch nicht erschlossene Parallelwelt
Ein Beitrag von Sibyl Steuwer
Ein Hauch von kitzeligem Nichts – so fühlt sich eine Spinne auf der Hand an. Für einige Menschen ist das Faszination pur. Für andere Menschen ist das der blanke Horror. Eine Kollegin rief mich neulich hektisch zu sich damit ich eine Spinne aus ihrem Zimmer entferne – sie hat eine Spinnenphobie. Als ich Ihr erzähle, dass wir im tt30 gerade an einer neuen Projektidee stricken, bei der wir Insekten als Nahrungsmittel in den Fokus rücken wollen, ist sie aber sofort Feuer und Flamme: „Das ist total plausibel. In vielen Teilen der Welt werden Insekten verzehrt, das sind ja wirklich hochwertige Proteine. Und am Ende ist das ja auch nicht so anders als Krabben und Garnelen zu essen“. Auch das ist es, was mich am Thema interessiert: Die Gleichzeitigkeit von Anziehung und Abstoßung.
Copyright: Carrianne Bullard (www.carriannebullard.com)
Die globale Versorgung mit hochwertigen Proteinen ist eine Herausforderung, weil sie auf Produktionsstrukturen baut, die zulasten von Biodiversität, Klimaschutz und Gerechtigkeit gehen, und zwar auf globaler und lokaler Ebene. Einen Teil des Proteinbedarfs durch den Verzehr von Insekten zu decken finde ich zumindest bedenkenswert und inzwischen auch – zumindest in Anfängen – umsetzbar. Allerdings möchte ich mehr darüber erfahren, über Potenziale, Probleme, Hürden, Best Practice, Co-Benefits, gute Rezepte, aber auch: Verfestigen wir nicht-nachhaltige Strukturen der Massentierhaltung, wenn wir Insekten als Tiernahrungsmittel zulassen – oder ist das die Chance für eine ökologische Wende in der Tierhaltung?
Und deswegen startet sie jetzt, meine Erkundungstour in die Welt der Insekten als Proteinquelle.
Globale Trends
Weltweit ist der Fleischkonsum in den letzten Dekaden kontinuierlich gewachsen. Laut FAO Weltagrarbericht wurden in den 60er Jahren durchschnittlich rund 24 kg Fleisch pro Person konsumiert, in den 80ern waren es gut 30 kg und derzeit liegt der Pro-Kopf Fleischkonsum bei rund 43kg im Jahr.[i] Die Daten zeigen eindrucksvoll, dass der Fleischkonsum global nicht gleich verteilt ist. In Industrieländern werden rund 80 kg Fleisch pro Kopf im Jahr konsumiert, bei Deutschen liegt der Konsum bei rund 60kg Fleisch im Jahr. Hier scheint sich die Nachfrage dem Bereich der Sättigung zu nähern. Dafür holen insbesondere die sich schnell entwickelnden Länder auf, hier ist die Nachfrage in den vergangenen Jahren stärker angestiegen.
Auf der anderen Seite gibt es immer noch Länder und Regionen, in denen der pro-Kopf Fleischverbrauch im Jahr unter 10kg liegt – eine Marke, die laut FAO zu niedrig ist und eine Mangelernährung anzeigt.[ii]
Diese weltweiten Entwicklungen haben viele problematische Aspekte: Der hohe und immer noch steigende Fleischkonsum geht einher mit steigendem Eiweißbedarf. Stark vereinfacht sieht das so aus: Die Tiere müssen gefüttert werden. Anstatt also die Sojabohnen als Eiweißquelle direkt zu essen, verwenden wir sie als Futterpflanze[iii]. Der Mehrbedarf an Energie ist ein Vielfaches von dem, was wir an Energie aufbringen müssten, würden wir unseren Fleischkonsum minimieren. Und nicht nur der Energiebedarf ist viel höher – der Flächenbedarf, der mit der Deckung der global ansteigenden Nachfrage nach Fleisch einhergeht ist, ist langfristig nicht vereinbar mit der global verfügbaren Fläche.[iv]
Die Sojaproduktion selbst ist auch ein Problem: Monokulturen verdrängen biologische Vielfalt, bringen Ökosysteme aus dem Gleichgewicht und steigern die Verletzbarkeit der Böden – Stichwort: Krankheiten, Erosion, …. – gar nicht gut. Dazu kommt ein globales Verteilungsproblem: Deutschland importiert rund 35-45% seiner eiweißhaltigen Futtermittelkomponenten, in der Regel Soja – oder wie es so schön heißt Sojaextraktionsschrot. Wo wird Soja angebaut? Richtig, nicht auf dem Feld nebenan sondern in Brasilien, Argentinien, USA. Auch die Futtermittelproduktion ist ungleich verteilt. Je mehr der Wohlstand weltweit und insbesondere in den schnell wachsenden Volkswirtschaften wie China oder Indien steigt, desto stärker steigt die Nachfrage nach Fleisch und desto mehr Soja muss angebaut werden.
Auch die Bundesregierung findet, dass wir ein Eiweiß-Problem haben und hat deshalb im Jahr 2012 eine Eiweißpflanzen-Strategie verabschiedet[v]. Sie setzt darin auf den verstärkten Anbau von Hülsenfrüchte, also z.B. die Ackerbohne oder Futtererbse. Ist das der beste Weg für faire, gerechte, ausgewogene und vielfältige Ernährung und Produktionsstrukturen, die auch ökologisch nachhaltig sind? Was sind die Alternativen?
Insekten – Eiweißlieferanten der Zukunft?
Und hier fliegen die Insekten ins Spiel: Die Faszination an einer Parallelwelt, das Wunder der Evolution, die fragile Schönheit der Metamorphosen. Aber sie haben auch einen ganz praktischen Nutzen als Futtermittel vieler Vögel, Reptilien, Amphibien. Könnten sie nicht eine größere Bedeutung als Proteinlieferant für unsere Ernährung bekommen? Wir wissen, in vielen Regionen der Welt kommen Insekten auf den Tisch oder werden als Snacks auf Märkten angeboten – so wie wir uns Krabben pellen und im Vorübergehen in den Mund stecken. Würden uns Heuschrecken und Mehlwürmer auch schmecken?
Wir wollen uns schlau machen: Welche Potenziale haben Insekten, das globale Eiweiß-Problem zu lösen? Welche Probleme könnte das mit sich bringen? Und welche Chancen ergeben sich dadurch?
Ich werde in den nächsten Wochen eine persönliche Expedition in das Reich der Insekten als Proteinquelle unternehmen und darüber berichten – und natürlich bald ausprobieren, was die Insektenküche so hergibt.
[i] http://www.fao.org/docrep/005/y4252e/y4252e05b.htm; http://www.fao.org/3/a-I5003E.pdf (27.05.2016)
[ii] http://www.fao.org/ag/againfo/themes/en/meat/background.html (27.05.2016)
[iii] Auch das Verhältnis des Konsums von pflanzlichen und tierischen Proteinen ist global unterschiedlich verteilt http://www.wri.org/sites/default/files/uploads/16_Shifting-Diets-Blog-Graphics_03v3.png (27.05.2016)
[iv] Erb et al. (2016) verweisen auf die zahlreichen systemischen Zusammenhänge von Nahrungsmittelproduktion, Flächenbedarf, Klimawandel, Biodiversitätsverlust und Ökosystemleistungen. Sie untersuchten 500 verschiedene Szenarien daraufhin, ob sie den globalen Biomassebedarf in 2050 ohne Entwaldung und innerhalb ökologischer Grenzen abdecken können. Während vegane und nahezu alle vegetarische Szenarien dazu in der Lage wären, sind laut Studie über 40% der untersuchten Szenarien, schlicht nicht möglich und viele weitere mit erheblichen Einschränkungen verbunden. Die gute Neuigkeit – die Deckung des Nahrungsmittelbedarfs ist auch ohne Entwaldung möglich. Den größten Einfluss auf die „Machbarkeit“ eines Szenarios hat die Zusammensetzung der Ernährung – vegan, vegetarisch, business as usual, oder besonders reichhaltig (hoher Fleischkonsum); für eine differenziertere Diskussion siehe: http://www.nature.com/ncomms/2016/160419/ncomms11382/full/ncomms11382.html#results (27.05.2016)
[v] http://www.bmel.de/DE/Landwirtschaft/Pflanzenbau/Ackerbau/_Texte/Eiweisspflanzenstrategie.html (27.05.2016)